MILLER, Martin: Das wahre >Drama des begabten Kindes
Martin Miller: Das wahre >Drama des begabten Kindes<
(Freiburg i. Br. 2013)
Das Buch dokumentiert den Versuch eines Sohnes (Martin Miller, geboren 1950), das schwierige, teilweise traumatisierende Verhältnis mit seiner kriegstraumatisierten Mutter (Alice Miller, 1923-2010) aufzuarbeiten. Es bezeugt, daß die bedeutende Kämpferin gegen Kindesmißhandlung und Kindesmißbrauch - vor allem in der elterlichen Familie - im Verhältnis zu ihrem Sohn im Sinne der transgenerationellen Traumaweitergabe selbst zur Täterin geworden ist.
Die Veröffentlichung ist bedeutsam in drei Aspekten. - Zunächst ist es eine sehr lesenswerte Fallstudie zum Thema intergenerationelle Traumatisierung und Parentifizierung nach familiärer und Kriegstraumatisierung. (Siehe zu letzterem unter anderem die Bücher von Helen Epstein: Die Kinder des Holocaust, sowie von Dan Bar-On: Die Last des Schweigens.)
Daneben bewahrt es die Erinnerung an Alice Miller als einer jüdischen Überlebenden des NS-Terrors. Sie selbst hatte über diese Zusammenhänge lebenslang Schweigen bewahrt - aus Gründen, die durch das Buch des Sohnes ansatzweise nachvollziehbar werden.
Und last not least ermöglicht es einen neuen Zugang zu Alice Millers psychotherapeutisch relevantem Werk. - Alice Miller hat über Jahrzehnte in allgemeinverständlichen Werken ihre Einsichten in die Kind-Eltern-Beziehung und ihre Kritik an der Psychoanalyse dargestellt. Im Oktober 1982 wurde ihr Artikel "Die Töchter schweigen nicht mehr" (in einem Sonderheft der Zeitschrift Brigitte) zur Initialzündung der öffentlichen Aufmerksamkeit für sexuellen Mißbrauch in der Familie (Inzest). Vehement trat sie für einen anderen, neuen Umgang mit kindlichen Traumatisierungen ein; sie gehörte dadurch zu den bedeutenden AnregerInnen der heutigen traumasensiblen Psychotherapie. Dennoch sucht man in ihren Publikationen (in Büchern wie auf ihrer bis heute bestehenden Website http://www.alice-miller.com/index_de.php) vergebens nach methodischen Hinweisen zur traumatherapeutischen Arbeit. Mit den neueren psychotraumatologischen Forschungen und therapeutischen Erfahrungen hat Alice Miler sich offenbar bis zum Ende ihres Lebens kaum auseinandergesetzt. Man konnte dies bedauern, aber unabänderlich kam Alice Millers Werk auf diese Weise insgesamt in fachliche Isolation.
Der durch Martin Millers Buch mögliche erweiterte Blick auf die Lebensgeschichte der Mutter, auf ihr persönliches Leid, auf ihr Versagen als Mutter macht nachvollziehbar, wieso Alice Miller ihre wesentlich aus existenziellen Erfahrungen erwachsenen Erkenntnisse über Kindheit, Eltern, Gewalt und Psychoanalyse kaum einbringen konnte in fachliche Diskurse. Das Buch bietet die Grundlage für einen Blickwinkel, von dem aus Alice Millers Werk neu, differenzierter und auf dem Stand heutiger traumatherapeutischer Erkenntnisse rezipiert werden kann.
Martin Miller ist selbst Psychotherapeut. Am Schluß seines Buches skizziert er bestimmte Aspekte im Werk seiner Mutter, die für ihn zu den bedeutsamen Grundlagen seiner eigenen therapeutischen Arbeit gehören. Deutlich kritisiert er andere Momente. Zu solchen therapiepraktischen Überlegungen würde ich mir fachliche Diskussion wünschen!
Alice Millers vor Jahrzehnten nuanciert begründete Ablehnung psychoanalytisch begründeter Therapie korreliert inzwischen durchaus mit traumabezogenen Modikfikationen der Psychoanalyse, für die heute in Deutschland Psychotraumatologen wie Luise Reddemann, Ulrich Sachsse oder Jochen Peichl stehen. (Dazu kommt Sandor Ferenczi als früher psychoanalytischer Dissident und die schon von Alice Miller rezipierten Klassiker Donald Winnicott, John Bowlby und Heinz Kohut.)
Der Traumatherapeut Oliver Schubbe nennt Alice Miller in seinem Nachwort als eine der Begründerinnen der psychohistorischen (Kindheits-)Forschung. Auch unter diesem Blickwinkel finden sich in Millers Werk Anregungen, die keineswegs überholt sind.
Ein ungutes Gefühl bleibt mir bei der Rezension dieser wichtigen Veröffentlichung, weil es auch hier wieder vorrangig um Alice Miller geht. Martin Miller, der neben der berühmten, unangreifbaren, gleichwohl in vielem tyrannisierenden, traumatisierenden Mutter überlebt hat und der sich dann auf den ebenso mutigen wie behutsamen Weg einer Aufarbeitung gemacht hat - sicher im Wissen, daß sein Buch nicht nur Beifall finden würde! - dieser Sohn kommt hier deutlich zu kurz.